Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die Welt im Umbruch. Insbesondere die Industrialisierung mit ihrem Effekt der Beschleunigung und der Massen-Mobilisierung stellte die Menschen vor grosse Herausforderungen. Das schlug sich auch in der Kunst nieder.
Neue Formen entstanden, welche die neuen Erfahrungen abzubilden versuchten. In der Literatur gelang Rainer Maria Rilke eines dieser Werke: «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge».
Für sein einziges Prosabuch, das 1910 erschien, erfand Rilke eine offene Form. Das hatte es bisher nicht gegeben, zumindest nicht in der deutschen Literatur. Statt einer durchgängigen Handlung mit klaren Entwicklungslinien und eindeutigen Charakteren, schuf Rilke hier ein sprachlich-gedankliches Geflecht aus Assoziationen und Konnotationen, aus Zeitverschiebungen und Brüchen....
Rilke entzog so seinen Lesern den vertrauten Grund des Wahrnehmens und Erzählens, um sie stattdessen mit einer sprachlichen Grenzerfahrung zu konfrontieren - ein Training gewissermassen für eine Zeit, die sich als lineares Vorher und Nachher zusehends auflöst. Eine Zeit, die keine klaren und zentralen Perspektiven mehr zu bieten hat. Wo sich hingegen reale und irreale Erlebnisbereiche immer mehr ineinander verschieben.
Sprecher: Gert Westphal
Neu eingerichtet und technisch aufbereitet: Mirjam Emmenegger und Reto Ott 2014
Produktion: SRF 1973