1.
Der böse Wolf war zu Jahren gekommen
und faßte den gleißenden Entschluß,
mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben.
Er machte sich also auf und kam zu dem Schäfer,
dessen Horden seiner Höhle die nächsten waren.
„Schäfer“, sprach er,
„du nennest mich den blutgierigsten Räuber,
der ich doch wirklich nicht bin.
Freilich muß ich mich an deine Schafe halten,
wenn mich hungert; denn Hunger tut weh.
Schütze mich nur vor dem Hunger;
mache mich nur satt,
und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein.
Denn ich bin wirklich das zahmste,
sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.“
„Wenn du satt bist? Das kann wohl sein“,
versetzte der Schäfer.
„Aber wann bist du denn satt?
Du und der Geiz werden es nie.
Geh deinen Weg!“
2.
Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.
„Du weißt, Schäfer“, war seine Anrede,
„daß ich dir das Jahr durch manches Schaf würgen könnte.
Willst du mir überhaupt jedes Jahr sechs Schafe geben,
so bin ich zufrieden.
Du kannst alsdenn sicher schlafen
und die Hunde ohne Bedenken abschaffen.“
„Sechs Schafe?“ sprach der Schäfer,
„das ist ja eine ganze Herde!“
„Nun, weil du es bist,
so will ich mich mit fünfen begnügen“, sagte der Wolf.
„Du scherzest, fünf Schafe!
Mehr als fünf Schafe opfere ich kaum im ganzen Jahr dem Pan.“
„Auch nicht viere?“ fragte der Wolf weiter;
und der Schäfer schüttelte spöttisch den Kopf.
„Drei? – Zwei?“
„Nicht ein einziges“, fiel endlich der Bescheid,
„denn es wäre ja wohl töricht,
wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte,
vor welchem ich mich durch meine Wachsamkeit sichern kann.“
3.
Aller guten Dinge sind drei,
dachte der Wolf und kam zu einem dritten Schäfer.
„Es geht mir recht nahe“, sprach er,
„daß ich unter euch Schäfern als das grausamste,
gewissenloseste Tier verschrien bin.
Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man mir tut.
Gib mir jährlich ein Schaf, so soll deine Herde in jenem Walde,
den niemand unsicher macht als ich,
frei und unbeschädigt weiden dürfen.
Ein Schaf! Welche Kleinigkeit! Könnte ich großmütiger,
könnte ich uneigennütziger handeln?
–
Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?“
„Oh, über nichts! Aber wie alt bist du, guter Freund?“
sprach der Schäfer.
„Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug,
dir deine liebsten Lämmer zu würgen.“
„Erzürne dich nicht, alter Isegrim!
Es tut mir leid,
daß du mit deinem Vorschläge einige Jahre zu späte kommst.
Deine ausgebissenen Zähne verraten dich.
Du spielst den Uneigennützigen,
bloß um dich gemächlicher mit desto weniger Gefahr nähren zu können.“
4.
Der Wolf ward ärgerlich,
faßte sich aber doch und ging auch zu dem vierten Schäfer.
Diesem war eben sein treuer Hund gestorben,
und der Wolf machte sich den Umstand zunutze.
„Schäfer“, sprach er,
„ich habe mich mit meinen Brüdern in dem Walde veruneiniget und so,
daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde.
Du weißt, wieviel du von ihnen zu fürchten hast!
Wenn du mich aber anstatt deines verstorbenen Hundes
in Dienste nehmen willst,
so stehe ich dafür,
daß sie keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen.“
„Du willst sie also“,
versetzte der Schäfer,
„gegen deine Brüder im Walde beschützen?“
„Was meine ich denn sonst? Freilich.“
„Das wäre nicht übel!
Aber, wenn ich dich nun in meine Horden einnähme,
sage mir doch,
wer sollte alsdenn meine a… (weiterlesen auf https://podcast-lesung.de/17-gotthold-ephraim-lessing-die-geschichte-des-alten-wolfs/)