An Sonia Liebknecht
Breslau, Mitte Dezember 1917
…
Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt,
auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär,
voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden,
oft mit Blutflecken …,
die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt,
dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert.
Neulich kam so ein Wagen, bespannt, statt mit Pferden, mit Büffeln.
Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe.
Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder,
mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern,
die Schädel also unseren Schafen ähnlicher,
ganz schwarz mit großen sanften Augen.
Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen …
die Soldaten, die den Wagen führen,
erzählen, daß es sehr mühsam war,
diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer,
sie, die an die Freiheit gewöhnt waren,
zum Lastdienst zu benutzen.
Sie wurden furchtbar geprügelt,
bis daß für sie das Wort gilt „vae victis“*.
… An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein;
dazu bekommen sie,
die an üppige rumänische Weide gewöhnt waren,
elendes und karges Futter.
Sie werden schonungslos ausgenutzt,
um alle möglichen Lastwagen zu schleppen,
und gehen dabei rasch zugrunde.
– Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren,
die Last war so hoch aufgetürmt,
daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten.
Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an,
derart auf die Tiere
mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen,
daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte,
ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte!
„Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid“,
antwortete er mit bösen Lächeln und hieb noch kräftiger ein .
.. Die Tiere zogen schließ an und kamen über den Berg,
aber eins blutete …
Sonitschka,
die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit,
und die war zerrissen.
Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still, erschöpft,
und eins, das, welches blutete,
schaute dabei vor sich hin
mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht
und den sanften Augen wie ein verweintes Kind.
Es war direkt der Ausdruck eines Kindes,
das hart bestraft worden ist
und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual
und der rohen Gewalt entgehen soll
… ich stand davor, und das Tier blickte mich an,
mir rannten die Tränen herunter
– es waren seine Tränen,
man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken,
als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte.
Wie weit, wie unerreichbar,
verloren die freien saftigen grünen Weiden Rumäniens!
Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind,
wie anders waren die schönen Laute der Vögel
oder das melodische Rufen der Hirten.
Und hier – diese fremde schaurige Stadt, der dumpfe Stall,
das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt,
die fremden furchtbaren Menschen,
und – die Schläge, das Blut,
das aus der frischen Wunde rinnt …
Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder,
wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf
und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. –
*“vae victis!“ (dt. „Wehe den Besiegten!“)
in Andenken an Rosa Luxemburg
(geboren 1871 – hingerichtet 1919)
„Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden“
Klavier
Lesung: Elisa Demonkí