Sagen des klassischen Altertums
II. Buch. Die Argonautensage
Iason gelangte nicht zu dem Thron von Iolkos,
um dessentwillen er die gefahrvolle Fahrt bestanden,
Medea ihrem Vater geraubt und an ihrem Bruder Absyrtos
einen schändlichen Mord begangen hatte.
Er mußte das Königreich dem Sohn des Pelias, Akastos, überlassen
und sich mit seiner jungen Gemahlin nach Korinth flüchten.
Hier lebte er zehn Jahre mit ihr, und sie gebar ihm zwei Söhne,
Memeros und Pheros mit Namen.
Während jener Zeit war Medea nicht nur um ihrer Schönheit willen,
sondern auch wegen ihres edlen Sinnes
und ihrer übrigen Vorzüge von ihrem Gatten geliebt und geehrt.
Als aber später die Zeit die Reize ihrer Gestalt allmählich vertilgte,
wurde Iason von der Schönheit eines jungen Mädchens,
der Tochter des Korintherkönigs Kreon,
mit Namen Glauke, entzündet und betört.
Ohne daß seine Gattin darum wußte, warb er um die Jungfrau,
und erst nachdem der Vater eingewilligt und den Tag der Hochzeit bestimmt hatte, suchte er seine Gemahlin zu bewegen,
daß sie freiwillig auf die Ehe verzichten sollte.
Medea war entrüstet über diesen Antrag und rief zürnend die Götter an,
als Zeugen seiner Schwüre.
Iason achtete desen nicht und vermählte sich mit der Königstochter.
Verzweifelnd irrte Medea im Palast ihres Gatten umher.
»Wehe mir«, rief sie, »möchte die Flamme des Himmels auf meinem Haupt herniederzücken! Was soll ich länger leben?
Möchte der Tod sich meiner erbarmen!
O Vater, o Vaterstadt, die ich schimpflich verlassen habe!
O Bruder, den ich gemordet und dessen Blut jetzt über mich kommt!
Aber nicht an meinem Gatten Iason war es, mich zu strafen;
für ihn habe ich gesündigt! Göttin der Gerechtigkeit,
mögest du ihn und sein junges Weib verderben!«
Noch jammerte sie so, als Kreon, Iasons neuer Schwiegervater,
im Palast ihr begegnete.
»Du finster Blickende, auf deinen Gemahl Ergrimmte«,
redete er sie an, »nimm deine Söhne an der Hand
und verlaße mein Land auf der Stelle;
ich werde nicht nach Hause kehren,
ehe ich dich über meine Grenzen gejagt.«
Medea, ihren Zorn unterdrückend, sprach mit gefaßter Stimme:
»Warum fürchtest du ein Übel von mir, Kreon?
Was hast du mir Böses getan, was wärest du mir schuldig?
Nur meinen Gatten hasse ich, der mir alles schuldig ist.
Doch es ist geschehen; mögen sie als Gatten leben.
Mich aber laßt in diesem Lande wohnen; denn obgleich ich tief gekränkt bin,
so will ich doch schweigen und den Mächtigeren mich unterwerfen.«
Aber Kreon sah ihr die Wut in den Augen an, er traute ihr nicht,
obgleich sie seine Kniee umschlang und ihn bei dem Namen der eigenen,
ihr so verhaßten Tochter Glauke beschwor. »Geh«, erwiderte er,
»und befreie mich von Sorgen!«
Da bat sie nur um einen einzigen Tag Aufschub,
um einen Weg zur Flucht und ein Asyl für ihre Kinder wählen zu können.
»Meine Seele ist nicht tyrannisch«, sprach nun der König;
»schon viel törichte Nachgiebigkeit habe ich aus falscher Scheu geübt.
Auch jetzt fühle ich, daß ich nicht weise handle;
dennoch sei es dir gestattet, Weib.«
Als Medea die gewünschte Frist erhalten hatte,
bemächtigte sich ihrer der Wahnsinn,
und sie schritt zur Vollführung einer Tat,
die ihr wohl bisher dunkel im Geist vorgeschwebt,
an deren Möglichkeit sie aber selbst nicht geglaubt hatte.
Dennoch machte sie vorher einen letzten Versuch,
ihren Gatten von seinem Unrecht und seinem Frevel zu überzeugen.
Sie trat vor ihn und sprach zu ihm:
»O du schlimmst… (weiterlesen auf https://podcast-lesung.de/36-gustav-schwab-jasons-ende/)