„Ficken“ brabbeln die Lippen des alten Mannes,
als ihm die Schwester die Bettpfanne unterschiebt.
„Ficken“, lallt die Zunge des alten Mannes,
als die Ärztin mit der Thrombosespritze hereinkommt.
„Ficken“, krächzt der Kehlkopf des alten Mannes,
als die Stimme der glücklichen Hausfrau aus dem Fernseher tönt.
„Ficken“, rasselt die Luftröhre des alten Mannes,
als er aus dem Zimmer geschoben wird.
„Die geben nie auf“, sagt die Schwester zur Hilfsschwester auf der Station,
„bis zum Schluss nicht!“
Playlist:
Mr. and Mrs Smith – Last Night Downtown – BY-NC-SA
Martin Auer – Ficken – BY-NC-SA
Steve Gunn – Old Strange – BY-NC-ND
Martin Auer – So voll Hunger nach Leben – BY-NC-SA
Blanket Music – I‘m Fat – BY-NC
Mr. and Mrs Smith – Crashed – BY-NC-SA
Underscore Orkestra – Dobur Vecher – BY-NC-SA
Latché Swing – Songe d‘ Automne – BY-NC-SA
Michael Chapman and the Woodpiles – Deportee – BY-NC
Martin Auer – Der Türsteher – BY-NC-SA
Cian Nugent – Rathsallagh Rose – BY-NC-ND
Kevin McLeod – Signation – BY
So voll Hunger nach Leben, dass ich mich umbringen könnte
Ich kam aus dem Spital und mein Vater hatte irr geredet, so seltsam, man merkte es zuerst gar nicht, denn er redete in Tonfällen, die wir kannten von ihm, seine Familie, wir saßen alle um ihn und lachten, wenn er Volvic sagte statt Münze, Volvic, es ging ihm nicht aus dem Kopf, dieser seltsame Name für ein Mineralwasser, es tat ihm weh, sagte er, dieses Wort, meine Schwester hatte die Plastikflasche aus London mitgebracht, sie füllte sie immer an der Wasserleitung, da war kein französisches Wasser drin, aber dieser Name, Volvic, er schmerzte meinen Vater, wir saßen um ihn, im Fernsehraum der Station, sein Bettnachbar wollte schlafen, so hatte sich mein Vater aus dem Bett geschleppt, in den Fernsehraum, ach, nicht nur aus Höflichkeit, er wollte doch nicht mehr bettlägerig sein, er sollte doch morgen entlassen werden, mit dem Herzschrittmacher in seiner Brust, gerüstet nun für neue Jahre, generalüberholt sozusagen, mit geputzten Herzkranzgefäßen, und Volvic, und er müsste nun das streichen vom Internet, sagte er, was denn, vom Internet, sagte er, die Dateien, die müsste er streichen, löschen, was er angemerkt hatte, und warum, sagte er, geht es mir so schlecht, warum fühl ich mich nicht gut, ich versteh das nicht, hab ich das nötig, dieses Volvic, dass ich mich nicht gut fühl, und er sagte das in dem Ton, in dem er immer seine Witze macht, und dann hustete er, ach er hustet ja schon so lang, er hat sich die Lunge weggeraucht in seinen ersten vierzig Jahren, und die zweiten vierzig hat er gehustet, und dann die Schmerzen im Rücken, das ist eine Scheiße, sagte er, diese Schmerzen im Rücken, hab ich das nötig, der Knochenschwund ist das, die Osteoporose, zwei Wirbel sind praktisch völlig weg, zerrieben zu Sand, wenn einer vierzig Jahre nur im Auto sitzt, nicht mehr geht, weil das Knie kaputt ist, weil der Fuß lädiert ist, dann schwinden die Muskeln, dann schwinden die Knochen, ach, und man merkt es nicht, denn man fährt ja die schnellen Autos, die sechzehn, die zwanzig Liter Benzin versaufen auf 100 Kilometer, ach, und nun ist es vielleicht vorbei, nun ist man nicht mehr der älteste aktive Motorjournalist auf diesem Planeten, nur mehr alt ist man jetzt, und das will er nicht, nur mehr alt sein, nein, er weigert sich, er will raus aus diesem Spital, hat zu tun, ohne ihn wird das Blatt nicht fertig, und Volvic, und vorher, bevor die anderen gekommen waren, war ich allein mit ihm, und die Schmerzen, und ich musste ihm die wärmende Salbe auf den Rücken schmieren, er zog sich das Nachthemd hoch, dieser faltige, fette, abgemagerte Hintern, das war mein Vater, der Mächtige, der Garant, dass mir nichts passieren kann, mir, dem fünfzigjährigen Sohn, ich musste dieses faltige, fette, abgemagerte Fleisch anfassen und die wärmende Salbe einreiben, dieser riesige runde Kopf mit dem weißen Bart, dieser faltige Hals, dieser mächtige Bauch, diese dünnen Beine, diese gelben Sohlen mit der rissigen ausgetrockneten Haut, das ist mein Vater, der Große, vor dem ich mich oft geschämt habe, weil ich zu weichlich war, zu mädchenhaft zart, ja, schau mich an, mich mit dem Stiernacken, mit der Glatze, mit dem Bauch, ich war nur ein Bürschchen, ein zartes, hab mich beim Fußball vor dem Ball gefürchtet, und dann, eines Tages, habe ich ihn an mich gedrückt, im Spaß, ihn, den alten Pfadfinder, der sich mit zwei gebrochenen Beinen den Berg hinuntergeschleppt hat, ihn, den Flüchtling vor den Judenmördern, ihn, den Schiffskoch, der fünfhundert Mal Speck mit Eiern gebraten hat, ihn den Soldaten mit dem breitkrempigen Hut der australischen Armee, ihn, den rasenden Reporter auf dem Motorrad, ihn, den Reformkommunisten, der gegen die Stalinisten aufmuckte, ihn, den Taxifahrer, Fernsehreporter, Kolumnisten, habe ihn an mich gedrückt, im Spaß, und ihm fast die Rippen gebrochen, ihm den Atem genommen, dass er auf dem Boden auf alle Viere gehen musste um wieder zu Atem, zu sich zu kommen, mein Gott, wie lange ist das her, und doch war er immer für mich der Starke geblieben, der Unüberwindliche, der Patriarch, und nun erst sah ich ihn leiden, nun erst sah ich ihn schwach, unsinniges Zeug daher brabbelnd, und wir, seine Familie, saßen um ihn und lauschten und lachten und konnten gar nicht begreifen, dass er nicht scherzte.
Und am Abend ließ ich mir ein Mädchen kommen, Katalog im Internet, hundertzwanzig Euro, ach, der schlanke Leib und der runde Hintern, ach die kleinen Brüstchen, die langen Beine, das braune Haar, und ich telefonierte und das Mädchen am anderen Ende sagte, es dauert noch, sie ist grade unterwegs, aber wenn sie fertig ist, ruf ich dich an, und als sie zurückrief, sagte sie, sie fährt noch nach Hause, duschen, in vierzig Minuten ist sie bei dir, und ich sagte, Mensch, denk dir doch etwas aus, so redet man nicht, wer will denn wissen, dass ein Mädel direkt von einem anderen Job kommt, und als sie dann da war, war sie eine Polin, Carmen, wer hatte ihr den Namen gegeben, sie lachte und zitterte und sagte, sie sei erschöpft, ein schwieriger Tag, ach, das schöne Mädel, und ich fragte warum? die Mama, sagte sie, im Spital, mit Kanzer, und dann schlüpfte sie aus dem Pullover und lächelte, und dann aus der Hose, und fragte, die Strümpfe auch ausziehen? und ich sagte ja, und als wir beide nackt waren, wollte sie ihr Bild im Internet sehen, denn sie wusste noch nicht, wie es aussah, und ich ging mit ihr ins andere Zimmer und zeigte es ihr, es war noch auf dem Bildschirm, ach, der schlanke Leib und der runde Hintern, die kleinen Brüstchen, die langen Beine, nur das Gesicht sah man nicht, und sie fragte mich: warum mich? da sind so viele Schöne mit blonden Haaren und großen Busen, und ich sagte, ich mag aber lieber die kleinen, und küsste die Knospen, und dann küsste sie mich auf den Mund und wir gingen zurück ins Zimmer und legten uns auf das Bett und küssten und hielten uns, und ich dachte an ihre Mama im Spital mit Kanzer, und sagte, mein Vater ist auch im Spital, das Herz, und so redeten wir, und hielten uns und sie küsste mich, aber Französisch nur mit Gummi, willst du das jetzt? und ich nickte, aber sag mir noch, wie du wirklich heißt, aber nur, wenn du willst, und sie schüttelte den Kopf und ich sagte, gut, dann bist du Carmen und hielt sie und küsste sie, aber dann sagte sie, es fängt auch mit K an, und ich sagte Katarzyna? nein, sagte sie, und lachte, wieso kennst du polnische Namen, ich war schon öfter da, sagte ich, und wo? in Wrocław und Poznan und Kraków und Warszawa, ich bin aus Poznan, sagte sie, aber am schönsten ist Kraków, ja, sagte ich, und hielt sie und küsste sie, und: mein Name ist Kinga sagte sie, das ist ein seltener Name, auf Deutsch ist es Kunigunde, Kinga, sagte ich, Kinga und hielt sie ganz fest, und dann machte sie mir Französisch mit Gummi, und als ich sie hinlegte und zwischen ihren Schenkeln kniete und in sie eindrang, da wich sie zurück, sie lächelte und wich zurück und ich sagte, du willst mich nicht in dir und sie sagte, ich habe Schmerzen, vielleicht kommt meine Menstruation, ich weiß das nie, das ist bei mir so, und ich sagte, lass nur, ich rufe nächste Woche wieder an, dann kommst du zu mir und dann werden wir ficken, und ich hielt sie fest und dann holte ich noch eine Decke für ihre kalten Füße und wir hielten uns und sie fragte mich, ob ich auch schwarze Mädchen mochte, und ich sagte, ich hatte einmal eine Freundin, aber das ist lange her, und? sagte sie, sie war nett, sagte ich, und wir waren jung, das ist alles, ich habe auch einen schwarzen Freund, sagte sie, er ist aus Nigeria und kann gut kochen, ja, sagte ich, in Westafrika ist die Küche besser, ich war in Kenia, und dort gibt es nur Mais und Kohl, weiß dein Freund, welchen Job du machst? ja, aber nur so ungefähr, verstehe, sagte ich, und als sie mich anfasste, sagte ich, nein, du musst nichts mehr tun, wir machen es nächste Woche, gut, sagte sie, nächste Woche, und dann fahre ich zu meiner Mutter und dann läutete sowieso ihr Handy, die Agentur, die Stunde war um, und ich brachte sie zur Tür und sagte, es ist schön mit dir, und dann ging ich hinauf und rief wieder die Agentur an und ließ mir Carla schicken, die kam aus Rumänien.
Der Türsteher
Es war vor nicht allzu langer Zeit ein Mann, der war Türsteher in einem Bordell. Das Bordell war, glaube ich in Stuttgart, es kann auch in Duisburg gewesen sein. Der Türsteher war einmal Tiefbauingenieur gewesen. Aber dann hatte er seine Frau verloren, zu saufen begonnen und seinen Job geschmissen, wie das manchmal so geht. Als Tiefbauingenieur war er viel auf Reisen gewesen, seine Firma baute Untergrundbahnen in Osteuropa, Eisenbahntunnel in Russland, künstliche Inseln in Arabien, Containerhäfen in Indien und ich weiß nicht, was noch alles. Da er ein paar Fremdsprachen konnte und immer gern noch eine neue Sprache dazu lernte, schickte seine Firma mit Vorliebe ihn ins Ausland. Und das hatte eben Folgen für seine Ehe. Ein Jahr oder so nach der Scheidung stürzte in Kenia eine Brücke ein und ein einheimischer Bauarbeiter wurde erschlagen. Er war nicht wirklich verantwortlich für den Unfall, die örtliche Vertragsfirma hatte an den Sicherheitsvorkehrungen gespart, aber er fühlte sich schuldig, weil er den Vertrag bei einem Besäufnis mit den Direktoren unterschrieben hatte und nicht genug Erkundigungen über seine Partner eingezogen hatte. Also kündigte er seinen Job und beschloss Schriftsteller zu werden. Er dachte, er hätte doch genug erlebt in der Welt. Aber über ein paar Notizen und Entwürfe kam er nicht hinaus, es war einfach nur ein Vorwand fürs Nichtstun und Saufen. Seine Ersparnisse wurden weniger, und als er auf tausend Euro herunter war, ging er in eine Bar, zahlte allen Mädchen Champagner, unterhielt sich mit jeder in ihrer Sprache und ging schließlich mit einer aufs Zimmer. Als er wieder herunter kam, fragte ihn die Frau hinter der Bar, ob er noch was trinken wolle. Nein, sagte er, das war mein letztes Geld, ich geh mich jetzt aufhängen. Die Frau hinter der Bar lachte und sagte: »Na komm, ich geb dir ein Bier aus«, und dann unterhielten sie sich auf Polnisch. Sie war die Besitzerin des Etablissements und aus Polen, und so gab eins das andere. Er erzählte ihr seine Geschichte und sie bot ihm den Job als Türsteher an, weil er alle Sprachen konnte. Sie zahlte ihm zwar nicht viel, 5 Euro in der Stunde, aber das regelmäßig, und er konnte in einem der Zimmer schlafen, wenn die Bar geschlossen hatte. Abends musste er in einer Phantasieuniform vor der Tür stehen, eigentlich war es nur ein langer roter Mantel mit goldenen Achselklappen, der ihm ein bisschen zu groß war, und eine rote Schildkappe mit goldener Schnur. Wenn Männer vorbeigingen, musste er sie ansprechen: »Guten Abend, haben Sie nicht Lust auf ein bisschen Spaß, kühles Bier, schöne Mädchen, anschauen kostet nichts!« Und natürlich musste er ein geheimes Signal geben, wenn jemand ins Lokal wollte, der nach Polizei aussah. Dann verschwanden die Mädchen nach oben in ihre Privatzimmer, bis auf die zwei, drei, die legal hier arbeiteten.
Zwischendurch wurde er auf Besorgungen geschickt, Kebabs holen für die Mädchen oder Pizza, aber nie um Zigaretten, denn die Chefin hatte geschmuggelte Zigaretten, die sie den Mädchen zum Selbstkostenpreis abgab. Am Tag half er der Chefin die Getränkelieferungen in die Kühlbox schlichten oder sie schickte ihn in den Beate-Uhse-Laden, wo er Kondome in Tausender-Packungen holte. Die meisten Mädchen wohnten auch in dem Bordell, sie schliefen aber nicht in den Gästezimmern, sie hatten eigene Zimmer, wo sie zu dritt oder zu viert hausten. Die Mädchen lässt du ab jetzt in Ruhe, hatte die Chefin gesagt, kein Anbandeln! Als Liebhaber kam er für die Mädchen sowieso nicht in Frage, dafür war er schon zu alt. Aber sie freundeten sich schnell mit ihm an, die, die länger blieben, jedenfalls. Polnisch und Russisch sprach er fast perfekt, und auf Polnisch konnte er sich auch mit den Ukrainerinnen, Weißrussinnen und Slowakinnen verständigen, bei den Bulgarinnen und Mazedonierinnen konnte er sich mit Russisch helfen. Ein paar Brocken konnte er sowieso auch von jeder dieser Sprachen. Seine Rumänischkenntnisse ergänzte er mit Italienisch, aber die meisten Rumäninnen sprachen recht gut Englisch und Spanisch, weil sie zu Hause die Hollywoodfilme und Telenovelas im Fernsehen in der Originalsprache sahen. Sein Türkisch brauchte er nicht wirklich, denn die türkischen Mädchen, die in die Bar kamen, waren in Deutschland geboren. Mit den Nigerianerinnen sprach er Englisch und mit den Mädchen aus Ghana Französisch. Manche, die erst frisch angekommen waren und noch gar kein Deutsch konnten, baten ihn, ihnen beim Einkaufen zu helfen, wenn sie mit dem ersten verdienten Geld schicke Unterwäsche für die Arbeit und coole Handys kauften. Sie schickten ihn so oft um Telefonwertkarten, dass er sie auf Vorrat kaufte, um immer welche bei der Hand zu haben, denn die Mädchen telefonierten ständig, mit ihrem Freund zu Hause oder auch mit der Mutter – nicht wenige hatten ein Baby, das von Mutter oder Tante oder Großmutter betreut wurde – oder sie telefonierten mit Freundinnen, die in anderen Etablissements oder in anderen Städten und anderen Ländern arbeiteten. Einige Mädchen brachte er zum Zahnarzt oder zum Gynäkologen, wenn sie Probleme hatten und er zeigte ihnen, wie sie sicher Geld nach Hause schicken konnten, ohne die horrenden Gebühren für Western Union zu bezahlen.
Bei dem freundschaftlichen Umgang mit den jungen Mädchen erholte er sich langsam von seinem Leid. Wenn er mit ansah, was manche von ihnen durchmachten, kam ihm sein Selbstmitleid recht lächerlich vor. Er sparte ein bisschen und mietete sich wieder eine eigene kleine Wohnung. Er kaufte auch ein paar billige Möbel und manchmal ging er dann wirklich in den frühen Morgenstunden in seine eigene Wohnung, wenn er einmal nicht im Geruch von Rauch und Schweiß und Desinfektionsspray schlafen wollte. Aber eigentlich blieb er gern in der Nähe der Mädchen. Er fühlte sich aufgehoben in dieser kleinen Welt.
In einer Nacht passierte es, dass ein betrunkener Gast einem Mädchen das Nasenbein zerschlug. Der Türsteher war gerade draußen, als er von drinnen die Alarmglocke hörte. Jedes Zimmer hatte einen Klingelknopf für den Fall, dass ein Gast brutal wurde oder durchdrehte. Er riss die Tür auf und rannte durch die Bar nach hinten in den Gang, der zu den Zimmern führte, aber als er zu dem Zimmer kam, über dessen Tür die rote Lampe blinkte, war die Chefin – sie war eine ziemlich massige Frau – schon dabei, den Gast durch die Hintertür hinauszubugsieren. Das Mädchen kauerte auf dem Bett, hielt sich die Hände vors Gesicht und weinte. Unter ihren Händen rann Blut heraus. Sie war eine Bulgarin, die er sehr mochte. Nach einem Job verzog sie sich immer ein oder zwei Stunden auf ihr Zimmer, bevor sie wieder herunterkam. Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Freund wegen Dealens in Untersuchungshaft war, und sie hier das Geld verdienen wollte, mit dem sie vielleicht jemand bestechen oder ihm wenigstens einen guten Anwalt beschaffen konnte.
Zeig her, sagte er auf Russisch und zog ihr vorsichtig die Hände vom Gesicht. Das Blut kam aus der Nase, das war nicht so schlimm, aber die Nase war geschwollen und er war sicher, dass das Nasenbein gebrochen war.
Sie flüsterte: »Er wollte etwas von mir, aber das mache ich nicht.«
»Ich bringe dich ins Spital«, sagte er.
»Nein, sagte sie, nicht ins Spital!« Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf und schrie dabei auf vor Schmerz.
»Du musst ins Spital, wir müssen sehen, ob die Nase gebrochen ist. Sonst wirst du immer mit einer dicken Nase herumlaufen.«
»Aber ich kann nicht!«
»Komm, wir sagen, du bist spazieren gegangen und ein Betrunkener wollte mit dir anbandeln und hat dich geschlagen, als du nein gesagt hast.«
»Nein, ich will nicht ins Spital. Bitte!«
Die Chefin kam zurück und der Türsteher sagte ihr, dass das Mädchen ins Spital musste, und das Mädchen begann vor Angst zu zittern und sagte wieder: Ich kann nichts ins Spital!
Die Chefin runzelte die Stirn und sah das Mädchen an: »Sag, hast du mir eigentlich schon deinen Pass gezeigt?«
Das Mädchen blickte zu Boden und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Es stellte sich heraus, dass das Mädchen noch nicht einmal siebzehn war.
Die Chefin beschäftigte keine Minderjährigen, das war ihr zu gefährlich, sie ließ sich von allen immer den Pass zeigen. Aber in diesem Fall hatte die Zuhälterin, die ihr das Mädchen vermittelt hatte, sie schon seit Wochen mit irgendwelchen Vorwänden hingehalten, bis die Chefin die Sache vergessen hatte.
»Raus!« sagte die Chefin und ging aus dem Zimmer.
Der Türsteher bestellte ein Taxi, fuhr mit dem Mädchen ins Spital, ließ ihr die Nase einrenken und brachte sie dann in seine Wohnung. Dann fuhr er zu der Zuhälterin und drohte ihr mit einer Anzeige wegen Menschenhandels, wenn sie ihm den Pass nicht herausgeben würde.
»Die sagt nie aus gegen mich«, sage die Zuhälterin, »dann weiß ihre ganze Familie und die ganze Stadt, was sie hier gemacht hat. Gib mir zweitausend Euro und du kannst sie haben.«
»Sie hat dir schon mehr als das abgeliefert. Vielleicht sagt sie nicht aus, aber ich zeig dich trotzdem an und du hast monatelang Scherereien und verlierst viel mehr als zweitausend, bis du wieder Mädchen herbringen kannst. Ist dir das die Sache wert?«
Er bekam den Pass.
Der Türsteher ließ das Mädchen bei sich wohnen, bis ihre Nase wieder verheilt war. Sie wollte für ihn kochen, aber ihr Essen war so, dass lieber er für sie kochte. Dafür putzte sie ihm die Wohnung. Wenn er um die Mittagszeit kam – er schlief wieder in einem der Gästezimmer im Club – hielt sie für ihn ein Frühstück bereit. An den Nachmittagen schauten sie Videos, bevor er zur Arbeit ging, denn es stellte sich heraus, dass sie wie er Filme von Jim Jarmusch und Almodovar mochte.
»Ich mag es nicht, wenn mir die Musik sagt, was ich fühlen soll«, sagte sie einmal.
Sie erzählte ihm von einem Buch, dass sie gelesen hatte, über einen Vietnamkriegs-Veteranen, der nicht mehr spricht und so tut, als wäre er ein Vogel. Er kaufte das Buch und las es und dachte sich so sein Teil, warum ihr gerade dieses Buch so wichtig war. Einmal in der Woche, wenn ihr Freund im Gefängnis Besuchstag hatte, rief sie seine Mutter an und gab ihr Grüße für ihn mit und erzählte ihr, wie es ihr angeblich in dieser Woche ergangen war, damit die Mutter es ihm berichten konnte. Ihre Geschichte war, dass sie hier in einem Restaurant als Küchenhilfe arbeitete, und jede Woche dachte sie sich Geschichten aus, welche Eifersuchtsszenen sich die beiden schwulen Kellner schon wieder geliefert hatten und was der Hund der Köchin wieder angestellt hatte und wie der Chef sie wieder einmal gelobt und ihr den Lohn erhöht hatte. Und dann sagte sie noch: »Und vergiss nicht zu sagen, dass ich ihn liebe!« Und am Abend des Besuchstages rief sie wieder an, um zu hören, welche Neuigkeiten ihr Freund ihr geschickt hatte und ob er auch ausrichten ließ, dass er sie liebte.
Sie hatte irgendwo einen Vater, der trank und eine Mutter, die mit einem anderen Mann Kinder hatte und von ihr nichts mehr wissen wollte. Seit sie ihren Freund kannte, hatte sie mit ihm in der Wohnung seiner Mutter gelebt, solange, bis er ins Gefängnis gekommen war.
Als ihre Nase verheilt war, fuhr sie nach Hause. Er brachte sie zum Zug. Bevor sie einstieg, umarmte sie ihn und gab ihm einen kleinen Kuss. Als der Zug abgefahren war, begann er zu weinen.
Am nächsten Tag rief sie ihn an. Sie war so glücklich, wieder zu Hause zu sein und wenigstens in der Nähe von ihrem Freund, aber es war etwas passiert: In der Nacht war sie eingeschlafen und jemand hatte ihr das Geld, das sie unterm Pulli versteckt hatte, gestohlen. Die ganzen 1000 Euro, die sie sich erspart hatte.
Und eine Woche später rief sie ihn wieder an: »Kannst du einen Club für mich finden, wo ich arbeiten kann, sagte sie, du weißt schon, wo sie nicht so schauen? Oder eine Agentur?«
Tagelang kochte es in ihm. »Hast du noch nicht genug?«, dachte er wütend. Er sah sie vor sich, wie sie hinauf rannte um zu duschen, wenn sie ein Zimmer gemacht hatte, wie man das nannte. Wie sie dann ganz im hintersten Winkel des Mädchentischs saß und den Blicken der Gäste nach Möglichkeit auswich. Die meisten Mädchen schüttelten das eben Erlebte ab wie nasse Hunde, wenn sie vom Zimmer kamen, zumindest äußerlich, und ein paar wenige schienen wirklich ihren Spaß mit den Gästen zu haben. Willst du dich wieder vor jedem dahergelaufenen ficken lassen, willst du wieder jedes Mal eine Stunde unter der Dusche stehen, bis du dich wieder halbwegs sauber fühlst, willst du dich wieder von einem Besoffenen zusammenschlagen lassen, weil du dich nicht in den … lässt? Natürlich konnte er einen Job für sie finden. Natürlich gab es Etablissements, die nicht so aufs Alter schauten. Im Gegenteil, es gab welche, die würden sie mit Handkuss nehmen, gerade wegen ihres Alters.
Mit der Zeit reifte ein Gedanke in ihm. Er kam sich nicht gut dabei vor, er versuchte, sich diesen Gedanken auszureden, aber der Gedanke war hartnäckig. Nach zwei Monaten rief er sie an: »Willst du immer noch kommen? Ich hätte einen Job für dich. Einen Privatkunden. Er will dich auf Urlaub mitnehmen, eine Woche. Er zahlt alle deine Ausgaben, Fahrt, Hotel, Essen und so weiter, und tausend Euro. Ich habe fünftausend verlangt, aber er will nicht mehr zahlen. Willst du es trotzdem machen? Dann erwarte ich dich am Samstag. Hast du das Fahrgeld?«
Sie borgte sich das Fahrgeld von der Mutter ihres Freundes aus. Er hatte sich ein Auto ausgeliehen und holte sie am Samstag Morgen vom Bahnhof ab.
»Ich bringe dich selber hin«, sagte er. »Es ist ein Kurhotel, zwei Stunden von hier.«
Sie war erschöpft von der langen Fahrt, hatte kaum geschlafen und zitterte. Unterwegs musste er zweimal halten, weil sie sich übergeben musste. »Entschuldige bitte«, sagte sie, »ich konnte nicht schlafen.«
Er hielt bei einer kleinen Pension etwas außerhalb des Kurorts und holte den Schlüssel für das Appartement.
»Er kommt erst heute Abend an. Schlaf dich erst einmal aus, damit du dann frisch bist.«
Dann wartete er in dem Wohnraum, während sie schlief, und starrte vor sich hin. Sie schlief sechs, sieben, acht Stunden. Er versuchte zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Die meiste Zeit ging er nur auf und ab. Als er drinnen das Wasser der Dusche laufen hörte, machte er Kaffee mit viel heißer Milch in der kleinen Kochnische. Als sie herauskam hatte er zwei Tassen bereit, so wie sie es für ihn immer gemacht hatte. Neben ihrer Tasse lag ein Umschlag.
»Also, es ist so«, sagte er. »Hier ist dein Geld, zähl es nach, es sind tausend Euro.«
»Und der Kunde?« fragte sie.
»Der Kunde bin ich.«
Sie starrte ihn an.
»Du hast mir gefehlt«, sagte er. »Ich hätte dir das Geld auch schenken können, aber so uneigennützig bin ich nicht. Was soll ich machen. Schau mich nicht so an, bitte.«
Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte.
»Jetzt denkst du sicher ganz schlecht von mir.«
»Nein«, sagte sie. »Ich denke nicht schlecht von dir. Aber ich kann nicht.«
»Warum nicht? Wenigstens bin ich kein Fremder für dich. Ich dachte, das macht es leichter.«
Sie schaute zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Das kann ich nicht. Das geht nicht.«
Er nahm ihre Hände in die seinen: »Aber warum nicht? Ich bin wie alle die anderen. Warum denn mit mir nicht?«
Jetzt begann auch er zu weinen.
»Ich kann nicht. Du bist wie ein Vater für mich!«
Und dabei blieb es. Er brachte sie zurück, kaufte eine Fahrkarte und setzte sich mit ihr bis zur Abfahrt ins Bahnhofscafé. Er schenkte ihr – nicht die ganzen tausend Euro, aber fünfhundert. Sie wollte sie nicht nehmen, aber er nahm ihre Handtasche mit dem Reisepass und drohte ihr, damit davonzulaufen und sie alleine hier sitzen zu lassen, wenn sie das Geld nicht annähme. Dann brachte er sie zum Zug. Als der Zug abfuhr, legte sie von drinnen die Hand auf die Scheibe. Er legte die seine von außen drauf. Er machte die Augen zu und spürte, wie das Fenster unter seiner Hand wegglitt.
Kultur & Gesellschaft
Nachttaxi Folgen
Literaturpodcast - Der Schriftsteller Martin Auer erzählt von Huren in Wien und Geschäftemachern in Nairobi, von Bettelkindern in Skopje und von weisen Männern in Indien, er erfindet alte Märchen und erzählt Geschichten aus dem wirklichen Leben.
Folgen von Nachttaxi
59 Folgen
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Folge vom 13.03.2014So voll Hunger nach Leben, dass ich mich umbringen könnte
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Folge vom 06.03.2014RomageschichtenSandra – eine Geschichte aus Šuto Orizari. Der rote König und die Hexe – ein Märchen aus Rumänien Der Rom und der Priester – ein Schwank aus Rumänien Eine Lügengeschichte – aus der Bukowina Der Geliebte – ein Märchen aus der Bukowina Die Märchen stammen aus der Sammlung „Gypsy Folk Tales“ von Francis Hindes Groome (1899) , Übersetzung Martin Auer Playlist: Unbekannte Musiker aus Serbien – Hochzeitsmusik Aziz – Sen Trope Martin Auer – Sandra – BY-NC-SA Ben Holmes und Patrick Farrell – Prelude 2 in A Moll von F. Chopin – BY-NC-ND Martin Auer (Übers.) – Der rote König und die Hexe – BY-NC-SA Gipsyork – Intr-o Zi La Poarta Mea – BY-NC-ND Martin Auer (Übers.) – Der Rom und der Priester – BY-NC-SA Fishtank Ensemble – Zuki Zuki – BY-NC-ND Martin Auer (Übers.) – Ein Lügenmärchen – BY-NC-SA Unza Unza Orkstr – Unza Unza Live at Pacific Park – BY-NC-SA Peter Rosmanith – Schneesand Martin Auer (Übers.) – Der Geliebte – BY-NC-SA Kevin McLeod – Signation – BY Die Texte sind zu finden auf der Seite „Wo ist Zigeunerland?“
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Folge vom 28.02.2014Der TätowiererDirk Schreiber überfiel Menschen, verschleppte sie und tätowierte sie gegen ihren Willen. Er hielt sich für einen Künstler. Playlist: Easy Rider – The Pusher – BY-NC-ND Martin Auer – Der Tätowierer 1 – BY-NC-SA Bruce Gremo – Cilian Developments – BY-NC-ND Martin Auer – Der Tätowierer 2 – BY-NC-SA Ergo Phizmiz – A Courtly Knees Up – BY-NC-SA Kevin McLeod – Signation – BY Der Tätowierer F: Dirk Schreiber, Sie sind praktisch sofort nach Ihrer Entlassung aus der Haftanstalt zur Eröffnung Ihrer ersten Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum geflogen. A: Ja, so war’s. Am Gefängnistor hat eine Limousine gewartet und mich zum Flughafen gebracht. F: Was war das für ein Gefühl? Einen so krassen Gegensatz erlebt kaum jemand, der gerade aus dem Knast entlassen wird, und das nach Verbüßung einer zehnjährigen Haftstrafe. A: Ich weiß das nicht. Ich bin nur ein einziges Mal aus dem Knast entlassen worden. Es war auch nicht so ein starker Gegensatz. Ich hatte ja schon die ganzen Monate vorher die Ausstellung vorbereitet, viel gemalt und gezeichnet, und dann das Hängen der Bilder – das musste ich ja virtuell machen, am Computer, da ich noch nicht vor Ort sein konnte. So war dann die Reise zur Ausstellung nur der letzte logische Schritt, also nicht die große Befreiung, sondern einfach die nächste Aufgabe, die sich mir gestellt hat. F: In der Ausstellung waren nur gemalte Bilder zu sehen? Keine Tätowierungen? A: Es waren auch einige Tonskulpturen dabei. Sonst nur Acrylmalerei und Kohlezeichnungen. Ganz klassisch. F: Und keine Tätowierungen? A: Keine Tätowierungen. F: Haben Sie in der Haft auch anderes getan als gemalt und gezeichnet? Ich meine, haben Sie über die Taten nachgedacht, die Sie in den Knast gebracht haben? A: Sicherlich. Vor allem am Anfang, in den ersten Jahren. F: Fanden Sie das Urteil gerecht? A: Ob es gerecht war, kann ich bis heute nicht sagen. Aus einem gewissen Blickwinkel heraus war es sicherlich verständlich. Ich habe verstanden, dass die Richter nicht anders urteilen konnten, ja. Ich bin wegen Freiheitsberaubung und schwerer Körperverletzung in 28 Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, wovon man mir fünf Jahre erlassen hat wegen guter Führung. Objektiv gesehen war es das wohl, Freiheitsberaubung und so weiter. Objektiv gesehen waren das diese Delikte. Aber subjektiv, muss ich sagen, subjektiv habe ich das getan, was jeder Künstler tut: Ich bin meiner inneren Stimme gefolgt. Ich habe getan, was ich tun musste. F: Sie haben Menschen gegen ihren Willen tätowiert. A: Ja. F: Sie haben sie überfallen, betäubt, in ein Versteck verschleppt und sie dort gefangen gehalten, bis die Tätowierung fertig war. A: Ja. F: Das Gericht hat diese Taten als Verbrechen angesehen, nicht als Kunst. A: Ja. Das war in der Kunstgeschichte schon oft so. Künstler sind wegen Verstoß gegen die guten Sitten verurteilt worden, wegen Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung, Wehrkraftzersetzung, wegen konterrevolutionärer Umtriebe… Man hat Künstler auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ins KZ gesteckt, in die Irrenanstalt… F: Wollen Sie damit sagen, dass man Sie wegen Ihrer Gesinnung verurteilt hat? A: Ich will damit sagen, wenn man als Künstler neue Wege geht, muss man damit rechnen, verfolgt zu werden. F: Leugnen Sie, dass Sie Menschen großen Schmerz zugefügt haben? A: Natürlich nicht. Schmerz zufügen liegt in der Natur des Tätowierens. Die Tätowierung war immer ein Zeichen: Seht her, ich habe Schmerz ertragen, ich kann das aushalten. Früher, als man noch nicht so hygienisch gearbeitet hat wie heute, hat sie natürlich auch bedeutet: Seht her, ich habe eine gute Konstitution, ein gutes Immunsystem, ich habe kein Wundfieber bekommen, keine Tetanusinfektion, was weiß ich. Unbewusst natürlich. Und das ist noch heute so. Man könnte ja eine Tätowierung auch unter lokaler Betäubung machen. Aber das wäre eine Farce. Und kein Mensch verlangt sowas. Die Menschen sind immer zu mir gekommen, um sich Schmerz zufügen zu lassen. F: Aber doch freiwillig. A: Ja, die Menschen, die ins Tattoo-Studio kommen, kommen freiwillig. Aber wie oft ist man unfreiwillig der Kunst oder irgend einem Medium ausgesetzt. Man geht durch die Fußgängerzone, und da spielt ein Straßenmusiker. Man geht durch ein Kaufhaus und wird mit Musik berieselt. Sie fahren mit dem Auto und werden mit Plakaten bombardiert, mit Leuchtreklamen, mit Videowänden. Das alles stürmt auf Sie ein und Sie müssen sich damit auseinandSersetzen, ob Sie wollen oder nicht. Sie gehen in eine Kinopremiere und Sie wissen nicht, welchen Schockeffekten Sie ausgesetzt sein werden. Hinterher müssen Sie vielleicht kotzen. War das jetzt freiwillig? Im vorigen Jahrhundert haben Schauspieler eine Theaterform entwickelt, „unsichtbares Theater“. Die haben an der Bushaltestelle einen Ehestreit angefangen oder etwas in der Art und haben die Passanten da hineinverwickelt und wollten den Leuten damit Inhalte in Bezug auf die Emanzipation der Frau vermitteln oder so was, und die Leute waren dem ausgesetzt und waren sich gar nicht bewusst, dass sie Kunst erleben oder sogar Teil eines Kunstwerks sind. So gesehen kann man sagen, ich habe den Menschen ein Erlebnis vermittelt, eine extreme Erfahrung, die sie vielleicht auch weitergebracht hat. Eine Art Katharsis, ein heilsamer Schrecken. F: Sie haben sich also von Anfang an als Aktionskünstler gesehen? A: Nicht von Anfang an. Am Anfang war es die reine Verzweiflung. Am Anfang wollte ich einfach nur gute Tattoos machen. Sehen Sie, diese ganzen Schnörkel und Arabesken, die sich die Leute so stechen lassen – das ist ja schrecklich. Das ist grauenhafter Kitsch. Ich rede gar nicht von den Tigern und Herzen und Totenköpfen. Auch das abstrakte Zeug, die chinesischen Schriftzeichen, die keltischen Runen, die Arschgeweihe, das ist ja zum Speien. Ich wollt einfach nur gute Tattoos machen, spontan, nicht nach einer Vorlage, wo die Leute sich was aus einem Katalog aussuchen, sondern ganz spontan, vom Körper inspiriert, von der Haut, von den Reaktionen auf die Nadeln. Einfach irgendwo anfangen und spüren, wo es hingeht, auf Grund der Reize, die vom Tätowierten zurückkommen, den unwillkürlichen Muskelspannungen, den Lauten, die er oder sie von sich gibt, in einen echten Dialog treten, sich gemeinsam auf ein Abenteuer einlassen. Vielleicht, wenn ich die richtigen Leute gekannt hätte, Leute aus der Szene, wie sie jetzt zu mir kommen, Leute mit Kunstverstand, ich hätte nie zu so radikalen Mitteln gegriffen. Heute, heute kommen Leute zu mir, Künstler, Schriftsteller, Musiker, die sagen: „Meister, mach mit mir, was du willst!“ Und ich sage ihnen: „Nicht was ich will. Was wir beide wollen.Wir beide werden dieses Abenteuer bestehen, wir beide werden versuchen, dieses Kunstwerk zu schaffen. Und wir beide werden siegen – oder untergehen.“ Und ich sage ihnen offen: „Es kann schiefgehen. Wir können scheitern. Das Tattoo wird vielleicht der größte Scheiß der Weltgeschichte, und dann stehst du da damit! Es gibt keine Erfolgsgarantie.“ Und die Leute sind geil auf das Risiko. Sie lassen sich darauf ein, sie zahlen im Voraus, sie unterschreiben einen Wisch, dass sie von vornherein mit dem Ergebnis einverstanden sind und auf jedes Rechtsmittel verzichten, und dann arbeiten wir zusammen, frei, in dieser wortlosen Kommunikation von Nadeln und Tusche und Körperspannung. Er spürt auf der Haut, was vor sich geht, den Schmerz der Einstiche, die Hitze der Entzündung, und ich bekomme alles von ihm zurück durch meine Hand, die seine Haut unter Spannung hält, ich spüre die Reaktionen seines oder ihres Körpers, und so arbeiten wir zusammen, wie im Rausch, und so entsteht – meistens – ein Kunstwerk. Aber damals: „Mach mir dies, mach mir das! Mach mir einen Dornenring um den Oberarm, mach mir Stacheldraht auf den Hals, mach mir ein Arschgeweih, einen Tiger, eine Mondgöttin!“ Wenn ich einem Kunden vorgeschlagen habe: „Komm, lass uns was Freies machen, was Spontanes, was Niedagewesenes!“, dann haben sie gesagt: „Au ja, super, zeichne mir mal einen Entwurf!“ Aber genau das wollte ich eben nicht machen. Aus dem musste ich einfach ausbrechen. F: Hätten Sie es nicht gleich mit der Malerei versuchen können, mit der Sie jetzt so großen Erfolg haben? A: Das hätte nie geklappt. Wer war ich denn? Ein No-name. Ich hatte keine Kunstschule besucht, keine Meisterklasse, ich hatte keine Beziehungen zu irgendwelchen Galerien, ich kannte keine Kritiker. Mir war klar, ich muss etwas Unerhörtes machen, etwas Ungeheuerliches. Zuerst habe ich daran gedacht, Leichen zu tätowieren. Ich habe übers Internet Menschen gesucht, die bereit waren, mir ihren Körper nach ihrem Tod zu vermachen. Die wollte ich dann tätowieren und die Leichen haltbar machen und ausstellen. F: Das klingt nach Gunther von Hagens. A: Richtig. Von da kommt die Idee der Plastination. Auch noch eine andere Inspiration war da. Ich dachte, wenn man übers Internet jemand finden kann, der bereit ist, sich töten und essen zu lassen, dann muss es um so eher möglich sein, jemand für mein Projekt zu finden. Und es haben sich auch Leute gemeldet. F: Aber…? A: Es haben schließlich mehrere Gründe gegen dieses Projekt gesprochen. Da war einmal die ungewissen Wartezeit. Dann ist das Tätowieren einer Leiche ja auch ein Widerspruch in sich. Der Tote spürt nichts. Und zum Tätowieren gehört eben der lebendige Schmerz. Einen Toten könnte man genausogut anmalen und mit farblosem Lack überziehen. Das wäre kein wesentlicher Unterschied. Ein Unterschied in der künstlerischen Technik, aber kein Unterschied im Wesen. Auch aus diesem Grund bin ich wieder von der Idee abgekommen. Aber der entscheidende Grund war: Die Leute, die sich gemeldet haben – auch die wollten einen Entwurf sehen. Oder sie wollten mir überhaupt Vorschriften machen, mit welchen Motiven ich sie tätowieren sollten und in welcher Pose sie nach ihrem Tod ausgestellt werden wollten: Als Ninja in Angriffsposition oder als Ritter mit erhobenem Schwert oder als Mondgöttin. Genau das Zeug, das sie sich im Leben gern hätten stechen lassen, aber nicht getraut haben, das wollten sie dann im Tod darstellen. Widerlich. F: Für die Form der Aktion, zu der Sie sich dann letztlich entschlossen haben, gab es da auch ein Vorbild, eine Inspiration? A: Unmittelbares Vorbild natürlich nicht. Denn ich musste ja etwas machen, was noch niemand gemacht hatte. Aber die Inspiration, die kam im Grunde von den Graffitikünstlern, von den Sprayern. Die sind ja auch immer mehr von statischen auf mobile Untergründe übergegangen. Statt der Eisenbahnunterführung haben sie zum Beispiel Eisenbahnwaggons als Ziel ihrer Aktionen genommen. Damit haben sie sozusagen eine Lokomotive vor ihre Botschaft gespannt, die die Botschaft überall ins Land gebracht hat. Oder sie haben ihre Initialen auf LKW-Planen gesprüht. Ich habe eine Zeitlang überlegt, private PKWs zu besprühen. F: Ein fast so schlimmer Tabubruch wie der, den Sie dann begangen haben. A: Ja, das mussten Sie jetzt sagen. Als Pointe ist das ganz gut, aber in Wahrheit ist den meisten Menschen doch die eigene Haut noch ein gutes Stück näher als der Lack ihres Autos. F: Und damit haben Sie spekuliert. A: In dem Moment, wo mir die Idee bewusst wurde, war mir klar, dass ich damit eine ungeheure Aufmerksamkeit erzielen würde. Und das ist es, was man als Künsteler will: man will, man muss einfach wahrgenommen werden. Bevor man sich ausdrücken kann, bevor man in Dialog treten, kommunizieren kann, muss man wahrgenommen werden. F: Man könnte ihre Aktion dann als grausamen Reklamegag abtun. A: Bei meiner ersten Aktion war, ich muss das eingestehen, die Reklame das vorherrschende Motiv. Der Effekt hat sich aber erst beim dritten Fall eingestellt. Dem ersten hat man nämlich gar nicht geglaubt. Es war ein junger Mann, ein holländischer Student auf Ferienreise, und der war von niemandem vermisst worden. Es hatte keine Abgänigkeitsanzeige gegeben. Als der dann zur Polizei ging und meldete, ein schwarz maskierter Mann hätte ihn in einer Zelle gefangen gehalten und ihm gegen seinen Willen ein Tatoo gestochen, hat man die Anzeige zwar entegengenommen, aber weiter nicht viel unternommen. Weil das Tattoo so ungewöhnlich war, haben die Polizisten das einfach für ein schlechtes Tattoo gehalten, für ein misslungenes, und haben gedacht, der hat sich die Entführungsgeschichte ausgedacht, weil er sich für das Tattoo schämt. Auch die Medien haben ähnlich gedacht und den Fall nur in den Randnotizen im Lokalteil gebracht, aks Kuriosum, wenn überhaupt. F: Waren Sie enttäuscht? A: Mir war klar, dass sich der Effekt erst nach und nach einstellen kann. Als zweite Zielperson habe ich eine Frau gewählt, so Mitte dreißig. Anna S. Die Arbeit mit ihr war sehr interessant. Sie hatte am Anfang große Angst, schreckliche Angst. Und sie hat mir auch Leid getan. Ich glaube, dass viel von diesem Mitleid, diesem Mitgefühl in die Linienführung mit eingeflossen ist. Ich habe ihren Schmerz und ihre Angst an die Oberfläche geholt, ihr innerstes Gefühl auf ihrer Haut eingezeichnet. Und dann, nach einiger Zeit, hat sich die Beziehung gewandelt. Sie hat einfach ein paar Tage gebraucht um zu verstehen, dass ich kein Perverser bin, dass ich sie nicht sexuell missbrauchen oder töten will. Am Anfang musste ich sie für die Arbeit fesseln, aber später ist sie sehr ruhig geworden. Wenn ich mit dem Tagespensum fertig war – ich habe ja nicht mehr als zweieinhalb Stunden jeden Tag mit ihr gearbeitet – dann ist sie ganz still da gesessen und hat aufmerksam jede einzelne Linie sozusagen Millimeter für Millimeter mit den Augen abgesucht, so als ob sie versucht hätte, eine Schrift zu entziffern, als ob sie versucht hätte, sich selbst zu entziffern. Sie hat mich auch um einen zweiten Spiegel gebeten, um ihren Rücken und ihren Nacken sehen zu können. Das Interessante war, dass sie mich beinahe wieder um den Bekanntheitseffek gebracht hätte. Sie ist nämlich nicht zur Polizei gegangen. Sie hat das Tattoo unter ihrer Bekleidung versteckt. Und ihrem Mann hat sie gesagt, sie kann sich nicht erinnern, was geschehen ist, sie hat vielleich einen Unfall mit Gehirnerschütterung gehabt, verbunden mit Gedächtnisausfall. Ihr Mann hat natürlich zuerst an eine Affäre gedacht und dann an eine Psychose. Und als sie dann wirklich einmal einen Ohnmachtsanfall hatte, hat er den Notarzt gerufen und sie ins Spital bringen lassen, und da hat man dann die Tätowierung gesehen. Die Anzeige hat dann er erstattet. F: Und was, meinen Sie, war der Grund für die Zurückhaltung der Frau? War da nicht doch eine Art Liebesbeziehung entstanden? A: Es entsteht zweifellos eine sehr starke Beziehung. Aber das hat nichts mit Liebe oder Hass zu tun oder mit Sexualität. Es gibt dafür einfach kein Wort, keine Bezeichnung, weil vermutlich nur wenige Menschen so etwas jemals erleben, deshalb gibt es auch keinen allgemein verständlichen Begriff dafür. Ich hatte keinerlei sexuelle Begierden dieser Frau gegenüber, und ich bin ziemlich sicher, dass sie sie auch nicht mir gegenüber hatte. Sie hat sich zu der ganzen Sache nie öffentlich geäußert, sie hat Interviews und Fotos immer abgelehnt. Ich glaube, dass sie sehr froh war, als ich ihr angekündigt habe, dass die Arbeit nun vollendet war und ich sie freilassen würde. Aber gleichzeitig habe ich doch auch gespürt, dass sie enttäuscht war, dass das Abenteuer nun vorbei war, dass wir uns trennen mussten. Es war sicher beides vorhanden. Vielleicht wäre sie ja später auch zur Polizei gegangen, vielleicht hat sie einfach diese Zeit gebraucht, um mit sich ins Reine zu kommen, um sich klar zu werden, was eigentlich geschehen war. Ich glaube, wir haben ungefähr zehn Tage zusammen verbracht, es war schon eine recht komplexe Arbeit. F: Aber Ihnen hat die Trennung nichts ausgemacht? A: Oh doch. Für mich war die Trennung von meinem Gegenüber auch immer hart. Aber es hat ja keinen Sinn, die Beziehung über das ihr bestimmte Maß hinaus fortzusetzen. Und das Maß ist eben die Vollendung des Werks. Irgendwann kommt der Punkt – auch wenn man anfangs keine Vorstellung hat von dem, was entstehen soll – irgendwann kommt der Punkt, wo man weiß, das ist es jetzt. Jede zusätzliche Linie wäre zuviel. Und dann muss man aufhören. Dann muss man sich trennen. Und dieses Wissen, dieses Gefühl von der Notwendigkeit der Trennung, das habe natürlich nur ich gehabt. Meine Partner wussten das nicht, konnten es nicht wissen, weil sie zwar Partner waren, aber doch in gewisser Weise passive Partner. Ich war der aktive, der wissende Teil. Vielleicht war es für mich leichter. Meine Objekte mussten annehmen, dass sie mich nie mehr wiedersehen würden, es sei denn, vor Gericht. Ich aber konnte hoffen, ihren Weg weiter verfolgen zu können durch die Medien. Ich konnte hoffen, im Grunde damit rechnen, dass sie für mich weiter tätig sein würden, dass sie meinen Ruf verbreiten würden, dass sie, wo immer sie hinkamen, von meiner Tätigkeit künden mussten. Andererseits, muss ich sagen, haben sie etwas von mir mitgenommen, jeder und jede hat etwas Einzigartiges von mir mitbekommen auf Lebenszeit, während mir nur die Erinnerung bleibt. F: Wie ist es weitergegangen? A: Mein dritter Versuch war künstlerisch gesehen ein absoluter Misserfolg. Ich hatte mir für diesen Versuch ein junges und sehr hübsches Mädchen ausgesucht, ich glaube, sie war achtzehn. Sie hat leider nichts, aber auch gar nichts verstanden, weder intellektuell noch gefühlsmäßig. Sie war genau der Typ, der sonst zu mir um ein Arschgeweih oder eine Mondgöttin gekommen wäre. Als sie über den ersten Schock hinweg war, hat sie mich nur beschimpft, sich beklagt, dass ich ihren makellosen Körper verunstalte, dass mein Tattoo absolut wertlos sei und so weiter. Ich musste sie schließlich knebeln, um die Arbeit halbwegs fertigstellen zu können und es ist wirklich nichts besonderes draus geworden. Es hat einfach ihre Mitarbeit völlig gefehlt. F: Aber von der Publicity her gesehen war das Ihr erster großer Erfolg. A: Von der Publicity her war es ein großer Erfolg. Natürlich. Sie war hübsch, ein gefundenes Fressen für die Fotografen, und, wie man so sagt, eine absolute Medienschlampe. Und damit ist natürlich jetzt der Hype losgegangen. Jetzt ist auch der Polizei klargeworden, dass da ein Serientäter am Werk ist, man hat sich auch an den holländischen Studenten wieder erinnert und ihn noch einmal einvernommen. Man hat auch Kunstsachverständige und Profiler herangezogen, erstens um festzustellen, ob es wirklich in allen drei Fällen derselbe Täter war, und dann eben, um irgendwelche Hinweise auf die Person, auf den Charakter zu bekommen. Und die Sachverständigen haben die Öffentlichkeit damit überrascht, dass sie erklärt haben – also vor allem Diane Waterhouse war da führend – nicht nur, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um denselben Täter handelt, sondern auch, dass, bei allen Vorbehalten gegen die gewaltsame und menschenverachtende Vorgangsweise, man den Arbeiten einen gewissen künstlerischen Gehalt nicht absprechen könne. Jetzt haben sich die Medien natürlich überschlagen, und die kleine Göre und der holländische Student sind zusammen in Talkshows aufgetreten und gewisse Illustrierte haben die beiden schon als Paar kolportiert. Für mich war natürlich jetzt die Frage, was mach ich als nächstes. Mir war klar, die Medien warten darauf, wer wird das nächste Opfer. Und sie haben natürlich damit gerechnet, dass es wieder jemand sein wird mit einem gewissen Sexappeal. Das wollte ich unterlaufen. Zuerst habe ich mir gedacht, als nächstes nehme ich einen widerlichen, alten Fettsack. Mal sehen, was ihr daraus macht. Ab jetzt war das eben ein Spiel mit den Medien. Aber das hat mir doch selber wiederstrebt. Ich meine, ich hätte nichts gegen einen dicken Menschen gehabt, das habe ich später auch bewiesen. Aber ich wollte eben keinen widerlichen alten Fettsack, das ist schon ein Unterschied. Ich habe mich dann für einen kleinen, sehr adretten älteren Herrn entschieden, der mir eines Tages in Köln aufgefallen ist. Ich habe mir ja für jedes Projekt eine andere deutsche Stadt ausgesucht, einerseits, um mein eigenes Risiko zu minimieren, andererseits, um den Publicityeffekt zu erhöhen. F: „Ganz Deutschland hält den Atem an“ war wirksamer als „Ganz Berlin hält den Atem an“. A: Richtig. Meine erste Aktion war in Berlin gewesen. Berlin, München, Darmstadt, und jetzt eben Köln. Das war die Route bis dahin. Der Mann nun, er ist als Joachim R. bekannt geworden, mit ihm war das eine unglaubliche Arbeit. Er war überhaupt nicht schockiert. Er hat alles mit der größen nur denkbaren Ruhe hingenommen. Er war der erste, bei dem ich bis ins Gesicht gegangen bin und bis in die Fingerspitzen. Er hat sehr wenig gesprochen, und das war mir recht so. Aus Worten entstehen nur Missverständnisse. Ein Muskelzucken ist einfach eine Tatsache, und ein Stich in die Haut ist auch eine Tatsache. In der Kunst geht es viel weniger um Bedeutungen als um Tatsachen. Erst nachdem unsere Arbeit schon beendet war, erst nachdem ich ihm den Zeitpunkt seiner Freilassung bekanntgegeben habe, hat er mir gesagt, dass er Jude ist. Und dass er deshalb einen besonderen Bezug zu Tätowierungen habe. Sie wissen, die Geschichte mit den Lampenschirmen. Und seiner Mutter hatte man eine Nummer in den Unterarm tätowiert. Und dass es ihm als gläubigem Juden verboten sei, sich tätowieren zu lassen, weil der Körper ein Geschenk Gottes sei, das man nicht verändern dürfe. Und als ich daraufhin das Tattoo betrachtete – er ist noch nackt vor mir gesessen, als er das erzählt hatte, ganz ruhig, und hat eine Zigarette geraucht – da war alles das in dem Tattoo enthalten. Es war alles drin und er hatte es mir schon längst erzählt und ich hatte es nach seinem Diktat in seine Haut geritzt. Dieser kleine Mann – er war ein unbedeutender Antiquitätenhändler, er hatte es hauptsächlich mit Biedermeiergläsern und Jugendstildrucken zu tun – er verstand etwas von Kunst. Er hat alles erfasst. Er ist zu Diane Waterhouse gefahren, hat sein Hemd ausgezogen und sie gefragt: „Was bin ich wert?“ Und sie hat ihm einen Schätzwert gesagt. Sie hat ihm eine Summe in Dollar genannt und gesagt: Das ist das Minimum. Und er hat gesagt: Gut, jetzt weiß ich es, und hat sein Hemd wieder angezogen. Aber das war von ihm nicht dieser jüdische Krämergeist. Das war von ihm eine Aktion, das war seine Aktion. Er hat sein Hemd nämlich nie wieder vor jemandem ausgezogen. Das war seine Antwort an mich. Und ich musste das hinnehmen. Diane Waterhouse hat über die Geschichte natürlich einen riesigen Artikel im New Yorker geschrieben, bei jeder Vernissage hat sie die Geschichte erzählt, wie der kleine Jude zu ihr kommt und sich schätzen lässt. Jetzt hatte ich, was ich wollte. Jetzt hatte ich internationale Pulbicity, die Aufmerksamkeit der Kunstwelt. Ganz klar, dass jetzt die Polizeifotos von Anna S. und Joachim R. den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, neben denen von Arne und Jessica, die sich ja sowieso bei jeder Gelegenheit vor die Kamera gestellt haben. Sie können mir glauben, noch nie ist in der Fachwelt so viel über einen Künstler diskutiert worden, von dem überhaupt erst vier Werke bekannt waren. Und ich dachte, ich muss jetzt weitermachen. Es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen aufzuhören oder mich vielleicht zu stellen um irgendwie von meinem Ruhm, den ich jetzt schon hatte, profitieren zu können. Nein, ich dachte nur, okay, ich bin auf dem richtigen Weg, ich muss das so weitermachen, ich muss mich weiterentwickeln, aber auf genau diesem Weg, den ich nun einmal eingeschlagen hatte. Meinen nächsten Coup machte ich in Italien. Einfach, weil alle meinten, ich würde mir wieder eine neue deutsche Stadt aussuchen. Aber ich machte es in Venedig, genau zur Zeit der Biennale. F: War das nicht ein bisschen plump? A: Das war sogar sehr plump, aber ich bin damit durchgekommen. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil man sich unsicher war, ob das jetzt ich war oder ein Neuer. Man hatte den nächsten Schlag in Deutschland erwartet, und jetzt kam er in Italien. Es hatte anlässlich der Biennale diese Diskussion gegeben, warum es in der bildenden Kunst keine Ismen mehr gibt, keine Gruppierungen, keine Schulen. Warum heutzutage jeder seine eigene Schule gründet, aber keiner ein Schüler oder Mitstreiter sein will. Und man hat gewitzelt, endlich ist es einem gelungen, eine Schule zu gründen, Nachahmer zu finden. Nach Impressionismus, Expressionismus, Surrealismus und so weiter gäbe es jetzt in der Kunst den Terrorismus. Und wieder mussten die Experten aufgeboten werden um festzustellen, ob es sich um eine Schülerarbeit oder um den Meister selbst handle. Interessanter Weise meinten ein oder zwei Experten tatsächlich, es sei ein Nachahmer am Werk. Es gab doch verschiedene Nuancen, die anders waren. Das kam aber daher, dass mein Ojekt ein algerischer Flüchtling war, mit dem ich überhaupt keine sprachliche Verständigungsmöglichkeit hatte. Das hatte doch einen Unterschied gemacht, obwohl ich glaube, dass ich die Arbeit im großen und ganzen recht gut gemacht habe. F: Und dann haben Sie wieder in Berlin zugeschlagen. A: Ja, wenn Sie so wollen. Ich dachte, jetzt gehe ich zurück nach Berlin, das erwartet keiner. Aber ich hatte mich getäuscht. Als mein Objekt – eine einfache Hausfrau, Tatjana F. – aus der Betäubung erwachte, sagte sie: „Ach, Sie sind der Tätowierer.“ Ich habe mit ihr nur eine mittelmäßige Arbeit zustande gebracht, die auch von der Kritik entsprechend bewertet worden ist, obwohl diese Tatjana sich gebärdet hat wie ein Pfau. Und die Bild hat getitelt: „Willkommen daheim!“. In der zitty haben damals Leute Kleinanzeigen geschaltet: „Hallo Tätowierer, ich gehe jeden Freitag nach 23 Uhr in der und der Straße spazieren, bin blond, mittelgroß und trage eine knallrote Latexhandtasche.“ Ich bin aufs Land ausgewichen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Bayern. Zwischendurch Abstecher nach Luxemburg, nach Österreich, nach Portugal. Ich musste einfach weitermachen, bis ich gefasst wurde. Ich wusste, dass das das Ergebnis sein würde. Eines Tages würde man mich fassen, mir den Prozess machen, mich einsperren. Anders konnte es nicht sein. Aber ich durfte es den Behörden nicht zu leicht machen, ich durfte nicht darauf hinarbeiten. Ich musste ehrlich spielen, mein Bestes geben. Damals begannen die Leute in die Studios zu laufen und zu verlangen: „Mach mir auch sowas!“ Das ist sicher der Satz, den ein Tätowierer am häufigsten hört: „Mach mir auch sowas!“ Viele haben natürlich Angst gehabt, dass man sie dann für den Tätowierer halten wird, oder sie haben abgelehnt, weil sie den Stil nicht verstanden haben. Aber einige hatten instinktiv begriffen, worum es mir gegangen war, und haben ihren Kunden gesagt: „Ich mach dir was, aber du musst dich mir ausliefern, du musst mir vertrauen, und es wird ganz anders aussehen, weil ich ich bin und nicht der.“ Aber das wollten die Kunden nicht, die wollten nicht an einem Kunstwerk teilhaben, die wollten einfach nur so aussehen, als ob sie bei mir in Gefangenschaft gewesen wären. Das war das Eklige, es sind dann wirklich diese Imitationen rumgelaufen, manche direkt von den Polizeifotos oder den Illustriertenfotos runterkopiert. Und da haben dann Diane Waterhouse und Franco Caselli eingegriffen und haben die erste Ausstellung organisiert, mit Vergrößerungen der Fotos und mit Live-Auftritten. Von den 12 echten Arbeiten von mir, die es damals schon gegeben hat, waren sieben bereit teilzunehmen. Und sie haben den ganzen Vorgang sehr klug analysiert, haben eine echte Interpretation meiner Kunst gegeben. Ich bin ja an sich kein Freund der Kunstinterpretation. Wenn das Kunstwerk nicht unmittelbar wirkt, dann hilft auch die Interpretation nicht. Das ist so wie bei einem Witz. Wenn man ihn nicht versteht und man kriegt ihn erklärt, dann lacht man trotzdem nicht mehr darüber. Aber hier war das notwendig, wegen der vielen Imitationen, die in Umlauf gekommen sind. Und da war viel meinen Zielpersonen zu danken. Waterhouse hat sehr einfühlsam mit ihnen gesprochen. In den Talkshows, da wurden sie ja immer nur nach dem Sensationellen gefragt, wie war der Überfall, wie war die Gefangenschaft, haben sie Angst gehabt. Waterhouse ist auf den künstlerischen Prozess eingegangen. Die Menschen haben dann berichet, was sie auf ihrer Haut erlebt haben, sie haben wirklich diese Körpererlebnisse geschildert, die sich ja eigentlich gar nicht in Worte fassen lassen, außer in so plumpe, dass es halt wehgetan hat. Das ist das Verdienst von Waterhouse, dass sie das aus ihnen herausgeholt hat. Für mich war das erschütternd. Ich habe nur den Film gesehen, der damals gedreht wurde, ich war nicht dort. Es war ja klar, dass man alle, die da hinkommen, genau unter die Lupe nehmen würde, von der Polizei her. Ich bin nicht hingegangen, aus Vorsicht, aber alle haben angenommen, dass ich doch sicher im Publikum sein werde, und ich habe das dann im Film gesehen, dass meine Ziepersonen manchmal solche Seitenblicke ins Publikum geworfen haben, als wollten sie sich von mir, der dort irgendwo unerkannt sein würde, eine Bestätigung holen. Für mich war das wirklich erschütternd. Es ist dann in der Kunstwelt eine große und ernsthafte Debatte gelaufen, ob das korrekt war, was Waterhouse gemacht hat, ob es erlaubt ist, das, was ich mache, als Kunstwerk zu diskutieren. Waterhouse und Caselli haben natürlich nie den kriminellen Aspekt verleugnet oder heruntergespielt, aber sie haben betont, dass es eben trotz allem Kunst sei und auch unter diesem Blickwinkel betrachtet werden müsse. Andere haben gesagt, man darf einfach nicht Menschen zu Objekten degradieren, man darf nicht einfach einen Menschen so behandeln, als ob er nur eine aufgespannte Leinwand wäre. Dem haben sie entgegnet, dass ich das ja nicht tue, dass ich mich ja intensiv mit meinen Zielpersonen auseinandersetze, und dass das in der Arbeit ja auch sichtbar werde, und meine Zielpersonen haben das auch bestätigt. Und sie haben auch gesagt, dass der kriminelle Aspekt untrenntbar mit dem künstlerischen verbunden sei, dass das Kunstwerk wegen der kriminellen Art seiner Entstehung ein ganz anderes Kunstwerk sei als wenn es von vornherein im gegenseitigen Einverständnis entstanden wäre. F: Dass das Kunstwerk so eine ganz andere Aussage bekommt? A: Diesen Ausdruck haben sie zum Glück nie gebraucht. Ein Kunstwerk hat keine Aussage, die man von ihm abtrennen kann. Ein Kunstwerk ist. Einen Dichter hat man einmal, nachdem er ein ziemlich langes Gedicht rezitiert hat, gefragt, was er mit dem Gedicht sagten wollte. Er hat darauf geantwortet: „Was ich mit diesem Gedicht sagen will, ist folgendes:“ und dann hat er das Gedicht noch einmal rezitiert. Und als er dann später diese Anekdote erzählt hat, hat er hinzugefügt: „Und dabei hat es gar nicht gestimmt. Denn beim zweiten Mal war es schon ein ganz anderes Gedicht.“ Es war derselbe Text, aber ein anderes Gedicht. Und Waterhouse hat auch ganz klar herausgearbeitet, dass es bei meinen Kunstwerken primäre und sekundäre Empfänger gibt. Dass die primären Empfänger eben meine Zielpersonen seien, die an der Entstehung unmittelbar beteiligt seien. Diejenigen aber, die hinterher das Tattoo sehen, seien sekundäre Empfänger, die ein ganz anderes Kunstwerk erleben, oder besser einen ganz anderen Aspekt des Kunstwerks. Sie hat gemeint, der Unterschied sei ungefähr so, wie wenn ein Komponist für einen Monarchen ganz allein die Uraufführung einer Oper veranstalten und der Monarch dann später seinen Freunden und Bekannten die Arien vorpfeifen würde. Und sie hat auch klargemacht, dass das Kunstwerk eben nicht an der Hautoberfläche endet, sondern dass alles dazu gehört, die Arbeit der Polizei, die Berichte der Medien, die Angst, die sich verbreitet hat, vor allem am Anfang, diese generelle Verunsicherung, aber auch dann eben die Nachahmung, die plötzliche Geilheit der Leute, selbst als Opfer des Tätowierers dazustehen. All das, sagte sie, können man nicht von den Bildern auf der Haut trennen, und ohne das wären die Bilder auf der Haut etwas ganz anderes, als was sie jetzt seien. F: Wurden Sie an den Einspielergebnissen der Ausstellung und des Films beteiligt? A: Nein, ich habe nie einen Groschen davon gesehen. Ich habe auch keine Forderungen gestellt, ich hätte das kaum einklagen können. Die juristischen Implikationen wären freilich hoch interessant gewesen, allein schon die Frage, wer nun eigentlich die Rechte an der Wiedergabe und Vervielfältigung des Werks habe. Ich glaube, es wurde sogar eine juristische Dissertation über den Fall geschrieben, von der Urheberrechtsseite her, aber ich habe sie nicht gelesen. F: Die Ausstellung hatte aber noch Folgen. A: Ja, die Ausstellung hatte Folgen. Jetzt traten tatsächlich Nachahmer auf den Plan, die sich meine Methode zu eigen gemacht hatten, zumindest äußerlich. Es waren auch einige wirkliche Künstler darunter, Marcel Gummer zum Beispiel, der leider sehr schnell gefasst wurde, oder Patrick M., den man bis heute nicht erwischt hat, oder Serafine, die auch immer noch auf freiem Fuß ist. Aber es es waren auch einige brutale Nichtskönner dabei, echte Trittbrettfahrer, die nur darauf aus waren, die Leute zu schocken und zu quälen. Und manche haben dann noch Geld verlangt. Die haben tatsächlich ihre Opfer hinterher angerufen und gesagt: „He, du bist jetzt ein Kunstwerk, was zahlst du dafür?“ Natürlich haben die nichts gekriegt, und viele sind auch deswegen erwischt worden. So hat das ganze bald wieder abgenommen, weil es im Grunde ja sehr riskant ist, sehr viel Arbeit macht und nichts einbringt. F: Sie haben allerdings noch andere Nachahmer gefunden, die bis heute tätig sind. A: Ja, das ist leider richtig. Indirekt geht das wohl auf mein Konto. Bei gewissen Jugendbanden ist das eine Mode geworden, das Branding. Man überfällt irgend jemanden, reißt ihm die Kleider vom Leib und drückt ihm ein Brandzeichen auf. Dann lässt man die Person wieder laufen. Hier geht es aber nicht um Kunst. Das sind reine Machtdemonstrationen. Welche Bande ist stärker, welche Bande kann mehr Menschen ihr Siegel aufdrücken. Die betrachten diese Menschen dann als ihr Eigentum, als ihre Herde. Sie veröffentlichen sogar Bulletins auf ihren Webseiten: Unsere Herde zählt schon 35 Stück, wieviel zählt eure? Die haben sich das zu eigen gemacht und es auf ihre Art abgewandelt, so dass es schnell geht, direkt auf der Straße, die machen die Brandeisen direkt auf der Straße heiß, mit einer Lötlampe. Aber das andere, das was ich gemacht habe, das geduldige, einfühlsame Tätowieren, das ist abgekommen, weil es eben nichts einbringt. F: Ihnen hat es aber auf die Dauer doch etwas eingebracht. A: Ja, weil ich der erste war, weil ich konsequent war, und weil ich gut bin. Wenn ich nicht gut wäre, wäre alles nur ein Publicitygag und man hätte mich schnell vergessen. F: Sind Sie sich dessen sicher? A: Nein. Ich sage das, weil ich es glauben muss. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass auch ein Scharlatan mit meiner Methode hätte Erfolg haben können. Nämlich dauerhaften Erfolg, der auch zehn Jahre später noch anhält. Das wäre schrecklich. Das würde ich nicht aushalten.
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Folge vom 14.02.2014Wir waren das Bauvolk – Erinnerungen an die Zukunfthttp://februarkaempfe.dort.pw Ich habe meine Großeltern nicht gekannt. Die Eltern meines Vaters sind in der Gaskammer von Treblinka ermordet worden. Der Vater meiner Mutter ist an den Spätfolgen einer Weltkriegsverletzung gestorben, als sie knapp drei Jahre alt war. Ihre Mutter ist an den Folgen einer unsachgemäß durchgeführten Abtreibung gestorben, als meine Mutter fast zehn war. Der Vater meiner Mutter hatte zwei Schwestern, die unverheiratet geblieben waren. Bei denen ist meine Mutter dann aufgewachsen, nachdem sie noch zwei schreckliche Jahre in einem faschistischen Waisenhaus verlebt hatte. Das waren meine Ersatzgroßmütter, die Hilda-Tant und die Wicki-Tant. Nachdem sie aber fast immer gemeinsam auftraten, hießen sie nur „die Tanten“. Die beiden sind 1897 und 1898 geboren, als elftes und zwölftes Kind ihrer Eltern. Hutstaffiererin haben sie gelernt. Im ersten Weltkrieg war die eine Straßenbahnschaffnerin und die andere hat in einer Munitionsfabrik gearbeitet. Nach dem Krieg waren sie in der Hutfabrik Gebrüder Böhm als Saisonarbeiterinnen beschäftigt. Durch die ständigen Arbeitsunterbrechungen sind sie nie in den Genuss eines bezahlten Urlaubs gekommen. In den Dreißiger Jahren waren sie arbeitslos. Als ich ein Kind war haben sie in Heimarbeit Schleifen für die Bonbonnieren der Heller-Zuckerlfabrik gemacht. Die beiden sind in eine sozialdemokratische Familie hineingeboren. Ihr Vater hat die Gewerkschaft der Metalldrücker in Österreich gegründet. Als junge Mädchen sind sie schon in die Partei eingetreten, gleich nach dem Weltkrieg. Sie gehörten immer zu den Linken in der Partei und nach dem Februar 34 sind sie dann Kommunistinnen geworden. Warum sie nie geheiratet haben? Zuerst mussten sie für ihre Eltern sorgen, denn für die hat es noch keine Altersrente gegeben. Der Vater ist 1925 mit 70 Jahren gestorben, die Mutter 1929. Ein Jahr nach dem Tod der Mutter ist ihr älterer Bruder gestorben, mein Großvater, und sie haben ihm am Totenbett versprochen, meiner Großmutter und den Kindern beizustehen. Sie waren immer für alle da, für die ganze ausgebreitete Familie. Wenn sie uns besucht haben, haben sie immer etwas mitgebracht, einen Apfelstrudel oder einen Hasenbraten, und dann haben sie sich nicht zum Tisch gesetzt, um Kaffee zu trinken, sondern sind in die Küche gegangen um Geschirr abzuwaschen oder haben meine Mutter gefragt, ob sie nicht zum Bügeln oder zum Stopfen hat. Ihr ganzes Leben sind sie in der Wohnung geblieben, in der sie aufgewachsen sind, Buchengasse 100, im Parterre, Zimmer, Kuchl, Kabinett, Wasser und Klo am Gang. Ihr jüngster Bruder, der Otto-Onkel, war 1923 dem Schutzbund beigetreten. Er war Adjutant des Kommandanten Major Eifler. 1927 ist er aus Enttäuschung über das Versagen der Sozialdemokraten beim Justizpalastbrand aus dem Schutzbund ausgetreten. 1934 hat er im Simmeringer E-Werk gearbeitet, und er war es, der den entscheidenden Hebel heruntergedrückt hat, um den Strom auszuschalten und das Signal zum Generalstreik zu geben. Nach den Kämpfen haben ihn die Tanten dann versteckt. In der Nazizeit haben sich die Genossen von der Roten Hilfe in der kleinen Wohnung in der Buchengasse getroffen. Der Otto-Onkel hat als Gemeindebediensteter für die Rote Hilfe Lebensmittelkarten gefälscht. Und als er dann in Mauthausen im KZ war, haben ihn die Tanten besucht und ihm Lebensmittel ins Lager geschmuggelt. Solche waren das, diese Tanten. Und am 1. Mai sind sie marschiert. Hinter der roten Fahne. Als ich sie gekannt habe, war es die Fahne der Kommunisten. Und haben gesungen: „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt wir sind der Sämann, die Saat und das Feld wir sind die Schnitter der kommenden Mahd wir sind die Zukunft und wir sind die Tat. So flieg, du flammende, du rote Fahne voran dem Wege, den wir zieh‘n, wir sind der Zukunft getreue Kämpfer wir sind die Arbeiter von Wien.“ Diese Frauen, die nie etwas gekannt haben als Arbeit und Kampf, Kampf und Arbeit, sie waren sicher: „Wir sind die Zukunft“, „wir sind die Tat“. Und so wie sie sind vor 1933 Zehntausende marschiert, Hunderttausende, hinter der roten Fahne der Sozialdemokratie. Sie sind aus ihren Elendswohungen gekommen, schlecht ernährt, müde vom Hackeln in der Bude, müde vom ewigen Sparen und Rechnen, müde vom Ausbessern der Kleider für die Kinder, müde davon, das Essen für die Familie zusammenzukratzen, müde vom Anstellen um die Arbeitslosenunterstützung. Sie haben ihre besten Kleider angezogen, um den Tag der Arbeit zu feiern. Und sie waren sich sicher: „Wir sind das Bauvolk, wir sind die Zukunft, wir sind die Arbeiter von Wien!“ Sie waren stolz, Arbeiter und Arbeiterinnen zu sein, stolz, Proletarier zu sein. Meine Tanten, sie waren sich sicher, dass sie kommt, die große Zukunft, dass sie kommt, die Gesellschaft, in der es keine Klassen mehr gibt, keine Armen und Reichen, keine Ausgebeuteten und Ausbeuter. Sie waren sich sicher, dass sie kommt, die Gesellschaft, in der jeder nach seinen Kräften zum gemeinsamen Leben beisteuert und jeder bekommt, was er braucht. Sie waren sich sicher, dass die Zeit kommt, in der es keine Kriege mehr gibt. Und sie waren sich sicher, dass nicht irgend ein Erlöser diese Zukunft bringen würde, nicht ein vom Himmel gesandter und auch kein irdisches Genie, sondern dass sie selbst es waren, sie und ihresgleichen, die diese Zukunft erschaffen würden. Die Arbeiter und Arbeiterinnen. Sie haben sich nicht als die Erniedrigten und Beleidigten gefühlt. In ihrem Bewusstsein hat die Zukunft schon Gestalt gehabt, in ihrem Herzen waren sie schon die Sieger. Wie auch die Lüge uns schmähend umkreist, alles besiegend erhebt sich der Geist. Kerker und Eisen zerbricht seine Macht, wenn wir uns rüsten zur letzten Schlacht. Die, die im Februar 34 die Gewehre ausgegraben haben, die sich zum Kampf gestellt haben, obwohl sie gewusst haben, dass es aussichtslos war, das waren die, die sich diesen Stolz nicht nehmen lassen wollten. Die nicht die Erniedrigten und Beleidigten sein wollten. Sondern die Zukunft und die Tat. Playlist: Martin Auer – Einleitung – BY-NC-SA NNA – Wealth Without Work – BY-NC Franz Jurica – Bericht über die Februarkämpfe in Ottakring – ? – Die Arbeiter von Wien – ? Victor Grünbaum u.a. – Couplet des Goldschieber – VexXxeR – Ethyl – BY-NC-SA Павкашавет#1073;антут – Eraserhead Industrial City – BY-NC-SA Engelbert Dollfuß – Trabrennplatzrede – Public Domain Jura Soyfer – Ballade von der gemeinsamen Schüssel – Public Domain VexXxeR – Penetrate – BY-NC-SA Ilya Monosov – For Two glitching Organs – BY-NC-SA Jura Soyfer – Mein Bruder Vagabund – Public Domain Cian Nugent – Grass Above My Head – BY-NC-SA Hedwig Sokopp – Bericht über die Arbeitsbedingungen im 1. Weltkrieg – Karl Münichreiter junior – Bericht über die Februarkämpfe in Hietzing – Jura Soyfer – Lied vom einfachen Menschen – Public Domain James Beaudreau – At the Foothills – BY-NC-SA Jura Soyfer – Dachaulied – Public Domain ? – Le Chant des Martyrs – ? Jura Soyfer – Lied von der Erde – Public Domain Kevin McLeod – Signation – BY