"Ende November, Anfang Dezember gibt es häufig einen Ansturm auf
psychotherapeutische Praxen", sagt Eva-Maria Seibel. Sie arbeitet als
Diplom-Psychologin, systemische Therapeutin und Familientherapeutin in
Berlin. Dass sich jetzt mehr Menschen bei Therapeuten melden, hätte
sicher auch mit dem Winter zu tun, erzählt sie im ZEIT-ONLINE-Podcast
Frisch an die Arbeit. Die Dunkelheit und der anstehende Rückblick auf
das Jahr wirkten zudem belastend. Die Pandemie verstärke dieses
Jahresendgefühl noch.
Seibel, 42, stammt aus dem Pfälzerwald und lebt seit 2005 in Berlin. Ehe
sie sich als Therapeutin selbstständig machte, arbeitete sie als
Psychologin in der Marktforschung und in der Werbestrategie. "In das
Bild der schrulligen Therapeutin will ich reinwachsen", sagt sie im
Podcast. In ihrer Praxis seien Familientreffen wie an Weihnachten zum
Jahresende ein Thema. Die Beziehung zu den Eltern sei immer eine
besondere und manchmal eben auch besonders anstrengend: "Man fährt zur
Familie und zwei Tage lang ist es schön – dann kippt man in alte
Muster", erklärt Seibel. Man fühle sich wieder als Kind oder
rebellischer Teenager und auch die Eltern verhielten sich
dementsprechend: "Das sind ganz übliche Abgrenzungsprobleme, die an
Weihnachten, aber auch zu anderen Familienanlässen auftreten."
Es seien viele junge Menschen, die sich bei ihr meldeten. "Sie sind
Anfang 20 und wollen sich schon in jungem Alter mit sich selbst
auseinandersetzen", sagt Seibel. Ältere Menschen würden seltener ihre
Hilfe in Anspruch nehmen: "Sie haben ganz andere Durchhaltestrategien,
gerade die, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit sozialisiert wurden."
Gefühle runterzuschlucken und wegzudrücken seien Überlebensstrategien.
Doch die könnten mit zunehmendem Alter auch stören.
Für sie als systemische Therapeutin sei wichtig, dass die Menschen, mit
denen sie arbeitet, keine Patienten sind – sondern Klienten. Der Mensch
werde nicht als krank angesehen. Die Symptome seien Ausdruck eines
Problems im System. "Wir schauen: Welche Funktion haben Symptome und
Konflikte im System?", sagt Seibel.
Wenn man zum Beispiel Sorgen wegen Weihnachten habe, müsse man das
gesamte Wertesystem der Familie betrachten: "Was wird in der Familie
etwa zum Thema Familienzusammenhalt propagiert, was zum Thema Harmonie?
Und wie will man sich davon abgrenzen, sanft oder klar?"
Dann müsse man betrachten, was die betreffende Person erreichen will und
welche Muster sie abhalten. "Oft hilft, wenn man sich fragt: Was müsste
passieren, dass es an Weihnachten so richtig fetzt?", sagt Seibel. Um
danach herauszufinden: "Wie kann man dieses Muster unterbrechen und was
anderes ausprobieren?"
Wichtig sei ihr dabei, dass die Klientinnen und Klienten
eigenverantwortlich bleiben. "Ich habe ein sehr großes Vertrauen in die
Personen und deren Ressourcen", sagt Seibel. "Ganz viel Lösungspotenzial
steckt in den Menschen drin. Man muss das manchmal nur ein bisschen
reaktivieren."
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