Die Militärexpertin Florence Gaub ist der Ansicht, dass der Westen die Drohgebärden des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Blick auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen falsch interpretiert hat. In der neuen Folge von „Handelsblatt Today“ sagt sie, dass Putin die Alarmbereitschaft der Atomstreitkräfte gar nicht auf Stufe 2 erhöht habe.
„Den Status, den er angekündigt hat, gibt es so nicht in der russischen Militärdoktrin. Wir wissen durch Satellitenbilder und nachrichtendienstliches Infomaterial, dass die Russen de facto überhaupt nicht in Alarmbereitschaft gegangen sind“, sagt Gaub.
Trotzdem sei es wichtig, das zu respektieren, auch wenn es „nur eine Drohgebärde“ sei. Die Entscheidung der Nato, sich nicht aktiv in den Ukraine-Krieg einzumischen, hält Gaub für richtig – und warnt vor einer „strategischen Ungeduld“ im Westen: „Fakt ist: Das, was wir machen, funktioniert. Wir müssen es wirken lassen – wie ein Antibiotikum.“ Als stellvertretende Direktorin des Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien in Paris beschäftigt sich Gaub schon seit vielen Jahren mit Militärstrategien unterschiedlicher Länder.
Gaub glaubt nicht, dass das Problem mit Russland mit einem Regimewechsel oder einem schnellen Kriegsende gelöst wäre: „Russland hat ein fundamentales Problem damit, wie die Welt aufgestellt ist und wie Nationen wie die USA in anderer Staaten Angelegenheiten intervenieren.“ Das wolle Russland ultimativ ändern, jetzt auch mit Gewalt. Und diese Sicht auf die Welt sei nicht nur bei Putin, sondern auch in den russischen Eliten tief verankert.
Ohnehin glaubt die Militärexpertin nicht, dass ein schnelles Ende des Ukrainekriegs absehbar ist: „Rein statistisch gesehen dauern Kriege zwischen Staaten im Schnitt 15 Monate. Krieg ist nichts, was schnell zu Ende geht, auch wenn man sich das im 21. Jahrhundert natürlich sehr wünscht.“
Den massiven Beschuss von zivilen Einrichtungen und Wohnhäusern in der Ukraine durch Russland bezeichnet Gaub als eine „Bestrafungsstrategie“. Die sei aber gleichzeitig eine „Notlösungsstrategie“, die man anwende, wenn man eigentlich gar nicht anders könne. Und sie werde wahrscheinlich nicht zu einer ukrainischen Kapitulation führen.
Inzwischen scheint Russland aber seine Strategie in der Ukraine zu ändern: Um Fluchtkorridore für Zivilisten aus der schwer zerstörten Hafenstadt Mariupol zu ermöglichen, hat die russische Führung eine Feuerpause angeboten. Gleichzeitig scheint es einen Teilabzug der russischen Truppen in der Nähe der Hauptstadt Kiew zu geben. Gaub gibt zu bedenken: „Es könnte sich hier um ein rhetorisches Ablenkungsmanöver handeln. In Syrien hat Putin dreimal den Abzug angekündigt, der bis heute nicht passiert ist.“
Außerdem hält es Gaub für sehr wahrscheinlich, dass jetzt Truppen zusammengezogen werden, um eine Offensive in der Ostukraine zu starten und dort die ukrainischen Streitkräfte auszuschalten. „Wenn das erstmal erreicht ist, gibt es für Russland überhaupt keinen Grund, nicht doch noch zu versuchen, nach Kiew vorzudringen.“
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